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Als sich Yngvi Snorrissons Fuß an einer Schneewehe verfing, die er im schemenhaften Licht des Hintergartens übersehen hatte, wusste er noch nichts von den wundersamem Geschehnissen, die er in Kürze erleben sollte. In diesem Fall jedoch war dieser dem Menschen angeborene Mangel an Voraussicht ein Segen, denn sonst hätte er es wohl niemals gewagt, den Ort zu betreten, zu dem er unterwegs war und eine wichtige Botschaft hätte niemals ihr Ziel erreicht. Doch wir wollen nicht zu viel vorwegnehmen! Fürs Erste reicht es vollkommen aus, zu wissen, dass sich der Fuß unseres „Helden“ im Schnee verfangen hatte und dass dies eine unerfreuliche Folge für ihn hatte: Er fiel kopfüber hin.
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Einen Moment blieb er so liegen, mit dem Gesicht tief im Schnee, und überlegte, ob es sich überhaupt lohnte sich wieder hoch zu kämpfen. Dieser Tag hatte einfach von allem zu viel gehabt. Zu viel Drama, zu viel Alkohol, zu viel Schnee für den April und definitiv zu viel Verwandtschaft! In welchem anderen Land der Welt gab es eine App, die deiner Traumfrau sagte, dass sie väterlichseits deine Kusine dritten Grades und gleichzeitig mütterlichseits deine Tante vierten Grades war? Was sollte das eigentlich bedeuten „Tante vierten Grades“? Er presste seinen Schädel noch tiefer in den weichen Schnee. Einen Moment überlegte er, ob er nicht einfach so liegen bleiben sollte. Vielleicht wäre das ja das Beste. Hier und jetzt Schluß machen – mit allem – und für immer! Aber dann regte sich der Rebell in ihm. Vielleicht würde er irgendwann einmal aufgeben, doch bestimmt nicht heute. Wäre ja noch schöner, wenn morgen in der Zeitung stünde: „Typ bringt sich wegen Íslendinga-App um!“ So viel Genugtuung durfte er diesen Arschlöchern einfach nicht zugestehen.
Er kämpfte sich hoch, befreite seinen Bart und Gesicht vom kalten, pappenden Zeugs und schwankte weiter. Nur ein paar Momente später vollführte er eine abrupte Vollbremsung. Beinahe wäre er gegen etwas Großes gestoßen. Gerade noch rechtzeitig hatte er sich an den Felsen in der Mitte des Gartens erinnert. Der schwarze Stein, der bei normalem Wetter an einen rund zulaufenden Baumstumpf erinnerte, war fast komplett mit Schnee bedeckt. Nur das oben aufgesetzte, spitz zulaufende Ende war noch frei vom Schnee. Der Stein hatte im Mittelpunkt von einem Märchen gestanden, die seine Großmutter ihm erzählt hatte als er ein Kind war. Jahrelang hatte er nicht mehr darüber nachgedacht, aber jetzt, da seine Oma gestorben war und hier alles platt gemacht werden sollte, ärgerte er sich über sein schlechtes Gedächtnis. Auf jeden Fall hatte es etwas mit dem verborgenen Volk zu tun gehabt, das war sicher, aber an mehr konnte er sich nicht mehr erinnern. Faste man ihre Geschichten kurz zusammen, dann konnte man sagen, dass in jedem Stein, Ort und in jeder Pflanze, die etwas besonderes an sich hatte, ein Vertreter des geheimnisvollen Volkes lebte. Er musste lachen, aber es fühlte sich auch ein bisschen bitter an. So, wie seine Oma mitsamt ihren verrückten Geschichten verschwunden war, würde bald auch dieser Stein verschwunden sein. Es gab ihm ein klein wenig Genugtuung, dass die Bauarbeiter es nicht leicht haben würden mit diesem massiven Ding. Wer wusste schon, wie tief der Stein nach unten ragte? Vermutlich war er sogar mit dem Grundgestein verbunden.
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Yngvi kämpfte sich weiter durch den tiefen Schnee, um den Stein herum und die wenigen Meter bis zur Tür. Den richtigen Schlüssel zu finden und ihn tatsächlich in das Loch zu pfriemeln, war in seinem Zustand eine keine leichte Aufgabe. Außerdem blies der Wind mit einem Mal viel stärker als zuvor und wirbelte ihm die Schneeflocken in das Gesicht. Heulend strich die Böe über das Dach der alten Hütte, in der seine Großmutter achtzig Jahre gelebt hatte. Einen kurzen Moment lang hatte er gar das seltsame Gefühl, dass der Wind nach ihm rief. Den Namen den er zu hören glaubte – seit Ewigkeiten hatte er ihn nicht mehr gehört. Er schallt sich selbst einen Idioten und trotzdem schaute er sich um. Doch natürlich war da nichts. Nur der Garten, wirbelnde Schneeflocken und die schwarze Steinkralle. Er schüttelte den Kopf und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf das Schloss. Fünf Sekunden später hatte er die Tür geöffnet.
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Das Erste, was er wahrnahm, als er seine Handyleuchte angeschaltet hatte, war die ungewohnte Größe des leeren Raumes. Noch vor kurzem war es einem hier schwer gefallen einen Fuß vor den anderen zu setzen. Die uralte Couch stand ganz verloren da. Sie hatte nicht mehr in den Umzugwagen gepasst. Erst vor einer Woche hatten er, seine Mutter und die Band die kleine Hütte ausgeräumt. Das Gefühl, sich auf unbekanntem Territorium aufzuhalten, wurde gemildert, als seine Nase die ihm so gut bekannten Gerüche einfing. Die bestimmende Note wurde immer noch durch den schweren, modrigen Altfrauenduft gebildet. Doch in den letzten Jahren hatten sich immer stärker die Aromen von Tabak, Schweiß, ausgelaufenen Bier und auch ein wenig Kotze darunter gemischt. Für Yngvi bedeutete dieser Duftcocktail zu gleichen Teilen Heimat und Inspiration. Als seine Oma gestorben war, hatte er große Pläne geschmiedet, wie er den Raum herrichten wollte. Ein „anständiger Proberaum“ sollte es werden. Irgendetwas hatte ihn jedoch davon abgehalten die alten Sachen seiner Oma rauszuschmeißen. Vermutlich war es nur seine Faulheit gewesen. Anfangs hatten sich die anderen über den Raum lustig gemacht, doch es hatte nicht lange gedauert, bis sie jedem, der es hören wollte voller Stolz verkündeten, dass ihr Bandraum die gemütliche Stube von Yngvis toten Oma war. Sigurd hatte es sogar geschafft ein Mädchen davon zu überzeugen, dass Oma Jorunn ab und zu als Geist auftauchte, sich flötenspielend an ihren Bandproben beteiligte und damit entscheidenden Einfluss auf den Sound der Band nahm. Eine ziemlich dämliche Lüge, wenn man bedachte, dass bis dahin in keinem ihrer Songs auch nur ein einziger Flötenton zu hören gewesen war. Da Sigurd aber nicht als Lügner vor seiner neuen Freundin dastehen wollte, hatte er sich schließlich selbst das Flötespielen beigebracht. Mittlerweile hatten sie zwei Songs aufgenommen, zu denen Sigurd seinen Flötensound beigesteuert hatte. Und er war erschreckend gut! „Es ist deine Oma! Sie inspiriert mich!“ sagte er immer wieder und Yngvi antwortete ihm jedes mal: „Sie hat aber nie Flöte gespielt, du Holzkopf!“ Doch Sigurd war das egal: „Man, sie war nicht immer deine Oma. Woher willst du wissen, ob sie nicht mal Flöte gespielt hat?“ Eine Aussage, die Yngvi jedes Mal wütend machte.
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Bewusst oder zumindest so bewusst, wie man es mit ein bis zwei Promille im Blut sein konnte, sog Yngvi den Duft tief ein. Auch ihn würde er vermissen. Mit seinem von außen und innen nassen Stiefeln stampfte er zur Heizung. Erst als er sie aufdrehte, fiel ihm wieder ein, dass sie längst alles abgestellt hatten. Beim Wiederaufstehen wurde ihm schwindelig – Heizung wieder zugedreht – auf Boden gesetzt, wo früher das Keyboard war – zwei Noten gespielt oder so getan – umgekippt – mit Kopf gegen Mülleimer gestoßen – hatte Thordis, den nicht mitn… – in Mülleimer gekotzt – zur Couch gekrochen. Wenn man besoffen war, war das Leben wie ein Buch voller abgehackter Sätze, dachte er in einem kurzen, klaren… – auf Couch eingeschlafen.
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Anmerkung: Ab hier ist die Geschichte eng mit dem Song, den ihr unten findet, verbunden. Vor jedem neuem Abschnitt ist das Zeitintervall angegeben, in dem sich die Handlung abspielt. Ich würde vorschlagen, ihr lest euch zuerst einen Abschnitt der Geschichte durch und hört euch dann den entsprechenden Teil des Songs an. Macht euch am besten einen zweiten Tap mit dem Song auf, damit ihr nicht immer zurückscrollen müsst. Ihr könnt euch natürlich auch zuerst den ganzen Song anhören und dann… Am besten, ihr findet selbst heraus, wie es für euch funktioniert. Da das Ganze bis jetzt vollkommen unerprobt ist, sind Vorschläge und Feedback sehr willkommen!
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0:00 – 0:08: Irritierende Töne weckten ihn wieder auf. Töne, die ihn an schlechte Science-Fiction-Filme erinnerten und in Szenen gespielt wurden, in denen eine Stimmung von drohendem, aber nicht genau definiertem Unheil, verbunden mit gleichzeitiger Zeitknappheit, erzeugt werden sollte. So, als müsste man befürchteten, dass Darth Vader, „das Alien“ oder irgendein anderer mieser Weltraumschrecken hinter der nächsten Ecke auf einen lauert oder als ob man schon seit Stunden nach einer Toilette suchte, die für die eigene Spezies geeignet war. Das erste, was Yngvi durch den Kopf ging, als er das Geräusch vernahm, war jedoch einfach nur eine verendende Leuchtstoffröhre. Was Yngvi allerdings genau so irritierte wie die sonderbaren Töne, war der flackernde Bildschirm des Fernsehers. Das alte Ding in dem Schrank war seit Jahren nicht gelaufen! Genau zwei weitere Sekunden blieben ihm, um verdutzt aus der Wäsche zu schauen. Dann erschrak er noch mehr, als…
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0:08 – 0:22: …die Mattscheibe plötzlich ein richtiges Bild zeigte und außerdem ein Sound zu hören war, den er so noch nie zuvor gehört hatte. Warum lief so etwas im Fernsehen? Der Bildschirm zeigte etwas, dass ihn stark an Computerspiel aus den 80igern erinnerte. Ein, wie in dieser Zeit üblich, mit wenigen Pixeln dargestelltes Baby kroch aus einer Krippe. Eine dudelnde Melodie, die etwas Fernöstliches an sich hatte, setzte ein. Der Basslauf ging „Da-Dadada-Dadada-Dadada-Dadadu-Dududu-Dududu-Dududu-DuduDU-DUDUDU-usw. und bei jedem Wechsel wuchs das Baby schlagartig. Zuerst begann es zu krabbeln, dann zu laufen, dann, mittlerweile ein Drei-Käse-Hoch, fuhr es auf einem Fahrrad, bis schließlich ein erwachsener Mann mit Vollbart auf einem Motorrad durch eine hügelige Landschaft schoss. Das ganze stellte anscheinend so etwas wie das Intro eines Computer-Spieles dar. Yngvi wollte sehen, wie es weiter ging, also drückte er den Start-Knopf. Erst dann stellte er sich die Frage, warum er denn den Controller seiner alten NES in der Hand hielt und was seine alte Konsole da unter dem Fernseher zu suchen hatte? Wer hatte das Ding verflucht nochmal hierher gebracht? Und was war das bitteschön für ein Spiel? Er hatte es noch nie irgendwo gesehen und erst recht nicht gespielt. Doch ihm blieb nicht viel Zeit, um über all diese Dinge nachzudenken, denn mit einem…
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0:22 – 0:40: …kurzen Trommelwirbel setzte das Schlagzeug ein und kündigte an, dass das Spiel jetzt begann. Das grob gepixelte Männchen hüpfte von seinem Motorrad und stand auf einmal in einer Szenerie, die wohl eine Baustelle darstellen sollte. Der gezeigte Ausschnitt bewegte sich nach rechts und als der linke Rand das Männchen erreicht hatte, schob es ihn vorwärts. Yngvi drückte am Kreuz auf die „Rechts-Taste“ und Pixel-Männchen lief los. Beim nächsten Schlagzeug-Beat rauschte eine rot-weiße Baustellenabsperrung von rechts in das Bild. Aus einem alten Reflex heraus, drückte Yngvi die „A-Taste“ und hüpfte lässig darüber hinweg. Beim nächsten Beat folgte ein eine Baugrube. Er sprang ein wenig zu früh ab und schaffte es gerade so auf die andere Seite. Noch ein Beat und von oben fiel ein Stahlträger herab, der Pixelmann sicher eins seiner zwei am linken, unteren Bildrand angezeigten Herzen gekostet hätte, doch Yngvi sprang locker nach hinten und entkam auch diesem Hindernis. Langsam begann ihm das Spiel Spaß zu machen und so überwand er die nächsten Herausforderungen ohne Probleme. Mit einem weiten Sprung über eine sehr breite Grube schien er das Level überstanden zu haben, denn…
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0:40 – 1:11: …mit einem weiteren Trommelwirbel veränderten sich Hintergrund und Melodie. Der Pixelmann landete mitten in einer grünen Sommerwiese und begann einen Hügel hinauf zu laufen. Die Melodie passte hervorragend zu der idyllischen Umgebung, doch dann rollten mit einem Mal große Felsen den Abhang hinunter. Es erforderte Yngvis volle Konzentration um immer wieder nach links oder nach rechts auszuweichen oder über eines der Dinger hinweg zu hüpfen. Es kam ihm vor als wurde eine Lawine von Felsen über ihn hineinbrechen, die, wie zum Hohn, fröhlich im Takt des Basslaufes den Hang hinunter purzelten. Als seine Figur endlich auf einer flachen Ebene ankam…
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1:11 – 1:43: … stand ihm auf einmal eine merkwürdige Figur gegenüber. Anscheinend sollte sie einen Bauarbeiter mit blauem Helm und orangener Sicherheitsweste darstellen. Seine Arme waren jedoch kein bisschen menschlich. Es schienen mechanische Roboterarme zu sein, an deren Enden riesige Baggerschaufeln angebracht waren. Yngvi wusste sofort, dass dieser Baggermann den Endgegner des Levels darstellte. Ungewöhnlich erschien ihm allerdings der seltsame roboterhafte Gesang, den dieser von sich gab. Die hervorgewürgten, unlebendig wirkenden Wörter entstammten offensichtlich keiner bekannten Sprache der Welt. Viele Gedanken konnte er sich jedoch nicht darüber machen. Der Baggermann begann mit seinen Schaufel den Boden aufzureißen und das Schaufelgut auf Pixelmann zu schleudern. Yngvi wich aus, so gut er konnte. Er schaffte es, sich nah an den Baggermann heran zu arbeiten, ohne von den in seine Richtung fliegenden Erdklumpen erwischt zu werden. Da er selbst nichts zu werfen hatte, ging er davon aus, dass er auf den Kopf des Bauarbeiters springen musste. Er ließ es darauf ankommen und hüpfte los. Doch genau in diesem Moment schmetterte ihm sein Gegner eine Riesenladung Dreck entgegen, die treffsicher seine Flugbahn kreuzen würde. Aus Verzweiflung und weil er sonst nichts tun konnte, drückte Yngvi die „B-Taste“. Zu seiner Freude vollführte Pixelmann einen Salto und flog in einer weitaus steileren Flugbahn nach oben als zuvor. Der Dreckhaufen rauschte unter ihm vorbei und als der Salto beendet war, schaffte er es ohne Probleme, seine Figur direkt auf Baggermanns Helm zu landen zu lassen. Dieser fror einen kurzen Moment lang ein und gab etwas von sich, was wohl am besten mit den Wörtern „to“ und „Duden“ zu beschreiben war. Yngvi mutmaßte, dass es sich um eine Mischung aus Englisch und Deutsch handelte und die Tätigkeit in ein Wörterbuch zu schauen, umschrieb. Allerdings musste er sich eingestehen, dass dies in dieser Phase des Spieles ziemlich wenig Sinn ergab. Er beschloss auf Nummer sicher zu gehen und hüpfte noch einmal auf den Helm. Baggermann sagte noch einmal „to duden“ und löste sich in Luft auf.
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1:43 – 2:16: Wieder änderten sich Musik und Szenerie. Wieder befand sich Pixelmann auf einer Blumenwiese. Eine trotz der grobkörnigen Darstellung deutlich als hübsch zu erkennende Frau mit langen, silbernen Haaren kam auf ihn zu, nahm ihn bei den Händen und tanzte Ringelreigen mit ihm. Gleichzeitig füllte ihr wunderschöner Gesang den ganzen Raum aus. Wo sie tanzten explodierten Blüten aus deren pulverisierten Stempeln sich Zahlen bildeten. 50, 75, 100, 200, 500. Pixelmanns Score stieg in unglaubliche Höhen. Yngvi, der selbst gerade nichts machen konnte, kam ins Grübeln. Was verflucht nochmal passierte hier eigentlich gerade? Irgendetwas stimmte ganz und gar nicht! Die Musik zum Beispiel schien gar nicht nur vom Fernseher zu kommen. Verdammt! Eigentlich sollte da nicht mal ein Fernseher sein! Zum ersten Mal seitdem er aufgewacht war, wand er seinen Blick vom Bildschirm ab und plötzlich explodierten nicht mehr nur noch Blütenstempel. Auch sein Schädel schien auseinander zu fliegen. Da war sie, die wunderschöne, silberhaarige Frau! In 3D! Keine vier Meter von ihm entfernt stand sie am Keyboard und sang. Sie lächelte ihm zu – eine Frau in Fleisch und Blut –und doch konnte sie nicht real sein, denn ihre übermenschliche Schönheit und vor allem ihre spitzen Ohren machten es ganz klar: Sie war eine Elfe! Und da waren noch mehr zauberhafte Wesen. Am Schlagzeug saß ein rothaariger Elfenmann, dessen nackter Oberkörper gleichzeitig schlank und kräftig war und den Bass spielte ein grünhäutiger Kobold mit einer aberwitzig langen, nach unten gebogenen Nase.
Als sich sein Gehirn vom ersten großen Schock befreit hatte und in der Lage war, neben dem Sehsinn auch wieder andere Informationen zu verarbeiten, überrollte ihn sogleich die nächste Schockwelle. Die Elfe, die so schön sang, wie sie aussah, sang ganz offensichtlich über ihn. Auch, wenn er nur ein einziges Wort verstand, war er sich da ganz sicher, denn dieses Wort war einmal sein Name gewesen. Im Alter von zehn bis vierzehn hatten ihn all seine Freunde ausschließlich mit diesem Namen angesprochen. Er hatte damals fast nicht anderes gemacht als mit seinem Gameboy, seiner NES oder mit seinem MSX zu zocken. Aus irgendeinem Grund, den er nicht mehr genau nachvollziehen konnte, hatten ihm die anderen dann diesen Spitznamen verpasst. Wahrscheinlich hatte er ihnen das eine Mal zu oft erklärt, wie toll die Spiele dieser Firma waren. Er war ein glühender Anhänger von Castlevania und Green Beret gewesen. Dass die Elfe nicht etwa über den Spielehersteller selbst sang, war vollkommen klar, schließlich schaute sie direkt zu ihm und nicht zum Bildschirm während sie sang und lächelte ihn dabei noch dazu auf diese ganz besondere Art und Weise an. Und dann war da noch etwas. Hatte er nicht vorhin gedacht, das der Wind diesen Namen gerufen hatte? Was geschah hier nur? Er hatte das Gefühl, sein Verstand hätte sich gerade in Brei verwandelt. Woher waren diese Feenwesen gekommen? Was wollten sie von ihm? Und warum sang die Elfe seinen alten Spitznamen so, als würde sie über einen großen Helden singen? Er bekam nicht genug Zeit, um sich darauf einen sinnvollen Schluss reimen zu können, denn die Elfenschönheit beendete ihren Gesang und deutete eindringlich auf den Bildschirm.
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2:16 – 2:31: Wieder änderte sich der Rhythmus der Musik und machte damit ziemlich eindrücklich klar, dass die Spannung jetzt wieder anstieg. Yngvi wusste, was die Elfe ihm mit dieser Geste sagen wollte, doch es erschien ihm unmöglich seine Augen von ihr abzuwenden, doch dann flackerte ein zarter Hauch von Zorn über ihr anmutiges Gesicht. Schlagartig kam er sich ganz schäbig vor. Wie konnte er es nur wagen dieses edle Wesen zu verärgern? Sofort kam er ihrer erneuten Aufforderung nach und schaute rüber zum Bildschirm. Sogleich schmerzte es ihn, sie nicht mehr anschauen zu können. Im Spiel rannte Pixelmann, den er jetzt wohl getrost Konami nennen konnte, wieder den Abhang hinauf, diesmal jedoch ohne rollende Steine und ohne, dass er etwas dazu tun musste. Anscheinend war dies das Intro zum zweiten Level. Sein Herz machte einen Freudensprung als er die Spiegelung Ihres Gesichtes auf dem Bildschirmes ausmachte. So konnte er ihr wunderschönes Antlitz betrachten während er weiter spielte. Innerlich machte er sich bereit auf die nächste Herausforderung, lockerte noch einmal seine Finger. Er ging davon aus, dass dieses Level schwerer werden würde und damit sollte er Recht behalten. Als Konami oben auf dem Hügel angekommen war, betrat er einen Bau-Container und…
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2:31 – 3:03: … fand sich in einem Raum wieder, dessen Wände über und über mit Bauplänen behangen waren. An einem Tisch wartete sein nächster Gegner auf ihn. Helm und Anzug wiesen auf einen Architekten oder einen Ingenieur hin. Das Gesicht aber war ganz eindeutig das des Bauarbeiters mit den Schaufelarmen. Und sofort begann er auch wieder mit dieser eklig ausdruckslosen Stimme zu singen. Oder sollte er es jetzt, da er den wunderbaren Klang der Elfenstimme vernommen hatte, einfach nur noch Schimpfen nennen? Der Architekten-Mann nahm einen Plan vom Tisch vor sich, faltete ihn in Sekundenbruchteilen zu einem Papierflieger, den er ihn in Richtung von Konami warf. Yngvi reagierte sofort und hüpfte hoch, um dem tieffliegenden Ding auszuweichen. Doch der Flieger vollführte einen unberechenbaren Bogen und schoss auf Konamis Füße zu. Wieder drückte Yngvi die B-Taste und hoffte darauf, wieder einen Überschlag zu machen, doch zu seiner Überraschung geschah etwas ganz anderes. Konami fing den Flieger mit der Hand auf. Sofort drückte er die A-Taste und sein kleines Ebenbild schleuderte den Flieger zurück auf seinen Gegenspieler. Dieser jedoch wich geschickt aus, indem er sich unter den Tisch bückte, faltete in Windeseile eine ganze Flugstaffel von Fliegern, die er alle in Richtung von Konami losschleuderte. Yngvi konnte nichts anderes mehr tun als zu reagieren und auszuweichen. Doch dann gelang es ihm sich zwei Flieger nacheinander zu schnappen. Beide warf er zurück und traf den den Architekten, der wieder zweimal „to duden“ sagte. Unten rechts im Bildschirm zeigte die Herzen-Anzeige des Kerls jetzt nur noch ein Leben. Gleich hatte er ihn also. Doch gerade als er den Flieger gefangen hatte, mit dem er die Sache beenden wollte, traf ihn selbst ein anderer, der eine unvorhersehbare Bahn genommen hatte, von hinten. Ein stechender Schmerz breitete sich in Yngvis Rücken aus und ließ ihn laut aufstöhnen. Konami blieb wie angewurzelt stehen, dann platzte seine Brust auf. Sein Herz wuchs zur Größe des ganzen Bildschirms an und dann explodierte es. Da, wo eben noch Konami-Pixelmann gestanden hatte, befand sich jetzt nur noch ein Haufen bleicher Knochen. Der Architekten-Mann rannte herbei und tanzte Pirouetten auf den Überresten. In der Spiegelung des Gesichtes der Elfin erkannte er ganz eindeutig Trauer. Obwohl er den scharfen Schmerz nur ganz kurz gespürt hatte, kam er nicht umhin, sich einzugestehen, dass er sich jetzt noch schlechter fühlte, als er es zuvor ohnehin schon getan hatte. So, als wäre ihm ein großer Teil seiner Kraft genommen worden! Seine aufkommende Panik wurde allerdings etwas beruhigt, als der…
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3:03 – 3:36: … Bildschirm plötzlich wieder die Blumenwiese zeigte, auf der er vorhin mit der Pixelfee Ringelreigen getanzt hatten. Jetzt tanzte sie alleine, hüpfte traurig wie ein Goth-Girl mit hinter dem Rücken verschränkten Armen über die Weide, bis sie ein Hügelgrab erreichte. Sollte dies etwa sein Grab darstellen? Und hatte er nicht einmal einen Hügel gesehen, der genau so aussah, wie dieser hier? „Dummkopf!“ schalt er sich selbst. Wie viele Hügel in ganz Island ähnelten wohl diesem 8-Bit-Haufen? Die „richtige“ Elfe und ihr Abbild auf dem Bildschirm sangen jetzt versetzt, wie im Chor. Die „Pix(-elf-)ie“ tanzte um das Hügelgrab. Während sie seinen Namen sang erhob sich der riesenhafte flache Stein, der auf der Spitze des Hügels auf kleineren Steinen geruht hatte und schwebte einfach hinfort. Und aus dem Kreis heraus, den die anderen Steine bildeten, hüpfte Konami. Yngvi war erstaunt über sich selbst, wie erleichtert er sich fühlte, als er seinen kleinen Doppelgänger so lebendig sah. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass anscheinend eben gerade noch ein Elefant auf seiner Brust gesessen hatte. Die Pixelfee näherte sich Konami, umarmte ihn und küsste ihn. Im gleichen Moment kam etwas in sein Blickfeld und mit einem Mal spürte er die zarten Lippen der „realen“ Elfe auf seinen eigenen. Es war als hätte er einen heftigen, aber zuckersüßen Stromschlag erhalten. Zu seinem Bedauern war die Elfe (und ihre Lippen) gleich wieder weg. Doch jetzt sprühte er über vor Leben und Energie. Weil sein Körper irgendetwas tun musste, sprang er auf. Am liebsten wäre er durch die Decke gesprungen, aber die Elfe drückte ihn sanft aber bestimmt zurück auf die Couch. Er musste seine zitternden Hände zwingen wieder nach dem Controller zu greifen. Das eine verbliebene Herz in der unteren Ecke des Bildschirms schlug jetzt im Rhythmus seines eigenen Herzens. Und es schlug viel zu schnell.
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3:36 – 3:41: Plötzlich hatte die Musik wieder etwas Drohendes. So als ahnten die verborgenen Volksmusiker Schlimmes.
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3:41-4:00: Auf einmal war ein wuchtiges Donnern an der Tür zu vernehmen. Irgendetwas Gewaltiges hämmerte von außen dagegen und brachte sie zum Beben. Das Gesicht der Elfe zeigte eindeutig Furcht. Er selbst sah wohl nicht viel besser aus. Was auch immer da draußen war, es musste über ungeheure Kräfte verfügen. Mit einem Mal zerbarst die Tür und ein riesenhaftes, haariges Ding schob sich in gebückter Haltung durch den Türrahmen. Das Wesen war so groß, dass es sich in dem Raum nicht aufrecht hinstellen konnte. Trotzdem stampfte es in einem erstaunlichen Tempo zum Keyboard hinüber. Nur die monumentale, rübenartige Nase gab Auskunft darüber, wo vorne war bei der Kreatur. Jedes ihrer Schritte war als würden Steinhaufen aufeinander schlagen. Yngvis Hintern wurde auf der Couch hin und her geworfen. Die Elfe rettete sich, indem sie zu Yngvi herüber sprang. Am Keyboard angekommen…
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4:00 – 4:31: … begann der TROLL, wie wild auf der Tastatur herum zu hauen. Seine Hände und Finger waren so klobig, dass es ein Wunder war, dass er die Tasten auch nur halbwegs traf. Ganz zu schweigen davon, dass sich das Keyboard nicht in seine Einzelteile zerlegte. Helles Leuchten vom Bildschirm erinnerte ihn wieder daran, dass er ein Spiel zu spielen hatte. Schon der erste Blick zum Fernseher sagte ihm, dass es jetzt um alles ging. Vielleicht sogar um sein Leben! Im Spiel war die Hölle ausgebrochen. Konami stand auf einem bebenden Untergrund, alldieweil im Hintergrund mehrere Vulkane eruptierten. Der Boden um ihn herum riss auf und es schossen Lavafontainen hervor. Yngvi brach der Schweiß aus. Er fühlte sich, als wäre er in der Sauna. Passend dazu begann jetzt auch die NES zu qualmen. Er wusste, dass er sein Abbild von der schmalen Felsscholle, die auf einem Lavastrom trieb, wegbringen musste. Er wartete bis die Fontaine wieder in die Luft geschossen war und sprang hinüber zu einer anderen Scholle. Sofort begann diese unter seinem Gewicht unterzugehen. Im rasanten Tempo, dass der Troll auf dem Keyboard anschlug, sprang er von Scholle zu Scholle, während Felsbrocken vom Himmel fielen, Lavafontainen in die Höhe schossen, der Grund unter ihm sich auflöste und grüne Giftwolken versuchten ihn mit ihren Tentakel einzufangen. Er wusste, dass er sich jetzt nicht mehr den kleinsten Fehler erlauben durfte. Und obwohl die Angst übermächtig zu werden drohte, lief er zur Höchstform auf. All die Jahre, in denen er seine Zeit mit dem Zocken verschwendet hatte, waren nun doch nicht so sinnlos gewesen, denn genau in diesem Moment musste er all sein über tausende von Stunden antrainiertes Können aufbringen! Vor welche Hindernisse das Spiel ihn auch immer stellte, er über-, unter- oder umwand sie. Dann jedoch…
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4:31 – 5:04: … erreichte er das sichere Land einer kleinen Insel inmitten eines großen Ozeans von brodelnder Magma. Der Architekt erwartete ihn schon. In einem Bagger sitzend, grub er etwas aus, das ganz genau so wie der schwarze Stein aussah. Oder zumindest die Spitze von dem Ding sah so aus, denn es selbst wurde dicht unter der Oberfläche deutlich breiter und setzte sich dann bis tief nach unten fort. Yngvi ärgerte sich, als er die Anzeige des Architekten sah. Sie zeigte wieder drei Herzen an. Vermutlich hatte er zwei als Belohnung für den vorherigen Kampf zurückerhalten. Der Architekt rüttelte an dem Stein, um ihn heraus zu brechen. Dabei brach ein Riß auf, der sich bis ins Fundament der ganzen Insel fortsetzte. Yngvi wusste, dass er den Architekten aufhalten musste oder die ganze schöne Insel würde auseinanderbrechen. Sofort führte er Konami in die Schlacht. Die Elfe sang jetzt wieder das Lied von der Blumenwiese. Der Heldengesang der Elfe ließ seine Entschlossenheit ins Unendliche wachsen. Er fing eines der Himmelsgeschosse, das ihn eigentlich hätte zerschmettern sollen, drehte sich mit einer Tastenkombination, die sich ihm bei irgendeinem Spiel ins Unterbewusstsein geschrieben hatte, wie wild um die eigene Achse und schleuderte es mit der fünffachen Geschwindigkeit auf den Bagger. Aberwitziger Weise schien dieser dem Einschlag standzuhalten – einen langen Moment – dann brach er auseinander. Der Architekt sagte „to Duden“ und kroch aus den Trümmern hervor. Zu Yngvis Bestürzung sah er, dass sein Feind noch zwei gelbe Herzen besaß. Bevor er etwas tun konnte, war der Architekt auch schon beim schwarzen Stein und schlug zwei kleinere Steine gegeneinander, was einen Funkenregen erzeugte. Dabei grummelte er wieder irgendetwas vor sich hin. Die NES qualmte jetzt wie verrückt. „Jetzt reicht es!“ dachte Yngvi. Er ließ Konami so hoch steigen wie nie zuvor und schoss dann in Superman-Pose mit vorgestreckter Faust auf den Architekten hinab. „To Duden“ sagte der Architekt wieder einmal, doch ein Herz blieb ihm noch. Wieder stieg Konami auf. Ein aller letztes Mal musste er seinen Gegner nur noch erwischen. Wieder rauschte er mit vorgestreckter Faust nach unten. Merkwürdiger Weise machte der Architekt gar keine Anstalten auszuweichen. Er stand nur da und schlug die Steine zusammen. Einen Moment fürchtete Yngvi, dass der Architekt so einen supertödlichen Special-Move vorbereitete, doch nichts geschah! Konami schlug ein wie ein Komet und das letzte „“to Duden“ für immer kam über die Lippen des Architekten.
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5:04 – Ende: „Verdammter Architekt, jetzt bist du platt, du Sack!“ rief Yngvi und hüpfte jubelnd auf der Couch herum. All seine körperlichen Lasten waren mit einem Mal von ihm abgefallen. Er fühlte sich besser als je zuvor. Die Elfe sprang zu ihm auf die Couch. Sie strahlte vor Glück und über ihre Wangen kullerten die Freudenstränen. Er nahm sie in den Arm, küsste sie und dann hüpften sie zusammen. Für Yngvi war es einer der schönsten Momente in seinem Leben, der jedoch abrupt beendet wurde durch ein lautes Krachen. Der Troll brüllte mit einer unvorstellbar tiefen Stimme, sodass Yngvis Klamotten an seinem Leib schlotterten. Das haarige Ungetüm hatte mit einem gewaltigen Prankenhieb das jetzt überall auf dem Boden verteilte Keyboard zertrümmert und deutete immer wieder in Richtung Bildschirm. Yngvi und die Elfe drehten sich um und erstarrten vor Schreck. Da, wo sich eben noch der Architekt befanden hatte, befand sich jetzt ein Grabstein. Im Hintergrund tanzten Konami und die Pixelfee auf der Wiese. Was sie jedoch so schockierte, befand sich ganz nah beim schwarzen Stein. Die funkensprühende Flamme einer Zündschnur bahnte sich seinen Weg auf den Stein zu. Nur noch ein winzig kleines Stück und sie hätte ihr Ziel erreicht. Der Architekt musste sie im letzten Moment bevor Konami ihn gekillt hatte entzündet haben. Das war also sein Special-Move gewesen! Yngvi wollte losspringen und sich den Controller, den er weggeworfen hatte, greifen, doch die Fee ließ ihn nicht los. „Zu spät!“ sagte sie traurig. Sie hatte recht. Er konnte nichts mehr tun. Nur noch eins blieb ihm. Er küsste sie und diesmal tat er es richtig. Während seine Zunge in ihren Mund wanderte, konnte er hinter ihr erkennen, wie die Flamme den Stein erreichte. Für drei genüßliche Sekunden passierte nichts. Doch dann zeigte der Bildschirm auf einmal in großen Lettern „GAME OVER“ an und der schwarze Stein zerbarst in tausende kleine Stücke. Das Land der kleinen Insel erbebte. Zuerst bildete sich ein langer Riss aus dem Lava hervorsprudelte. Dann zerbrach die Insel ganz und ging in einem Meer von Lava unter, zusammen mit Konami und der Pixelfee. Im selben Moment verschwand auch die Elfe aus seinen Armen. Löste sich einfach in Luft auf. Seine Zunge vollführte noch eine Extra-Drehung in der Luft, ganz so, als wolle sie es auch nicht wahr haben, dass die samtene Elfenzunge nicht mehr da war. Er schaute hinüber zum Rest der Band. Auch sie waren verschwunden. Dann spürte er es selber. Ein Gefühl als würde seine Haut kochen. Der Stein! Er durfte das nicht zulassen! Das letzte, was er sah, bevor er ins Reich der Toten hinüber schritt, war die zerschmolzene NES…
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Game over! Song over! Story noch nicht over! Das mystische Ende der Geschichte lest ihr hier.
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