Konamissong – Das Ende

Die Sonne, die durch das Fenster auf sein Gesicht fiel und ihn in der Nase kitzelte, weckte ihn. Der erste Moment nach dem Wachwerden war noch ganz angenehm, doch ein paar Sekunden später, nachdem sein der Körper all seine Fehlfunktionen durchgecheckt hatte, wurde es ein kleines bisschen unangenehmer. Zuerst war es unglaublich schwer aufzustehen, dann ging es auf einmal unheimlich schnell, allerdings nur, weil er sich in den Mülleimer übergeben musste. Verdammt, irgendwann heute Nacht musste er sich schon einmal darin… Weshalb hatte er sich nur so besoffen? Ach, ja! Die Erinnerung an das Ende seiner viel zu kurzen Beziehung mit seiner 3,5-gradigen Kusinen-Tante war sogar noch quälender als der pochende Schmerz hinter seiner Stirn. Er versuchte sich daran zu erinnern, was er gemacht hatte, nachdem sie ihm mit diesem traurigen Blick „Das geht so nicht!“ gesagt hatte. Doch ihm fiel nichts mehr ein. Absoluter Filmriss! Da war nur so ein undefinierbares Gefühl als wäre da noch etwas wichtiges passiert. Doch das Gefühl war schnell wieder verschwunden als er sich wieder über den Eimer beugen musste.

Eine Stunde später schaffte er es von der Couch aufzustehen, ohne das sich alles um ihn herum drehte. Als erstes leerte er den Eimer in die Toilette aus, dann trank er aus dem Wasserhahn und wusch seinen gelblich verfärbten Bart. Zurück im Wohnzimmer nahm er zum ersten Mal war, dass sich ein neuer Geruch unter die anderen gemischt hatte. Es roch nach verschmorten Plastik. Wieder versuchte er sich zu erinnern, was in der letzten Nacht noch alles geschehen war, doch an der Stelle, wo seine Erinnerung sein sollten, klaffte nur ein großes, schwarzes Loch. Er schaute sich die Kabel, die aus den Wänden hingen an, dann den Sicherungskasten, doch alles war okay. Dann fragte er sich, warum er sich darüber überhaupt Gedanken machte. Hier hätte auch alles abbrennen können und es würde niemanden interessieren. Außerdem befahlen ihm seine Kopfschmerzen nach Hause zu gehen, ein paar Tabletten einzuschmeißen und sich in sein richtiges Bett zu werfen.

In der Tür stehend warf er einen letzten Blick in den leeren Raum und es war ein bisschen als hätte man auch einen Teil von ihm mit leer geräumt. So viele Erinnerungen hingen an diesem Raum. In einem Jahr würden die Leute hier ihre Autos parken. Ursprünglich hatte seine Mutter nicht verkaufen wollen, doch schließlich hatten sie ihr ein Angebot gemacht, dass sie nicht mehr ablehnen konnte. Nicht so wie beim „Paten“ natürlich, aber wer konnte schon Nein sagen zu einer Geldmenge, die er selbst im ganzen Leben nie verdienen würde.

Als er vor die Tür trat erwartete ihn eine Überraschung. Es war bereits Nachmittag und die Sonne war kurz vorm untergehen. So viel Schnee gestern auch gefallen war, sie hatte ihn fast komplett weggeschmolzen. Oder war es die Erdwärme gewesen? Nur der schwarze Stein war noch mit Schnee bedeckt, so als hätte er der Wärme getrotzt. Die frische Luft einzuatmen wirkte sich augenblicklich lindernd auf seine Kopfschmerzen aus. Nach ein paar Schritten jedoch wurde ihm wieder schwindelig. Er musste sich an den Stein lehnen. Als er auf den tiefschwarzen Stein schaute, erinnerte er sich wieder einmal daran, Obwohl „Erinnern“ hier eigentlich das falsche Wort war. Es war viel mehr so, als fluteten Bilder und Worte seinen Kopf, die ihn als kleinen Jungen zeigten, vor seiner Oma sitzend, die ihm eine Geschichte erzählte. Doch, dass was er da sah und hörte, was in der Vergangenheit passiert sein musste, war für ihn vollkommen neu. Es klang verrückt, aber wenn es überhaupt echte Erinnerungen waren, dann waren es zumindest nicht seine.

„Es waren einst…“ So hatte sie jedes Mal begonnen. „Es waren einst zwei Trollbrüder, die aus Jötunheim verbannt worden waren, weil sie dort zu viel Ärger gemacht hatten. Sie waren zwei der größten Trolle, die es jemals gegeben hatte. Jeder von ihnen so groß wie ein Berg. Kaum waren sie bei uns auf Midgard angekommen, da fingen sie auch schon wieder an, mit dem Ärgermachen. Sie trieben es so bunt, dass schließlich Thor, der Beschützer Midgards, beschloss ihnen Einhalt zu gebieten. Mit seinem Hammer Mjölnir schleuderte er sie weit auf das Meer heraus, über die Midgardschlange hinweg, fast den ganzen Weg zurück bis ins frostige Jötunheim. Die schweren Trolle gingen unter und sanken in eine Tiefe Spalte auf den Grund des Meeres hinab. Viele Jahre suchten sie einen Weg hinaus, doch es gab einfach keinen.“

Es ihm jetzt so vor, als würde sie ihm diese Geschichte genau in diesem Moment zum ersten Mal erzählen, obwohl er sich selbst als kleinen Jungen vor ihr sitzen sah und sie schon seit über drei Jahren tot war.

„Da ihnen das Streiten, wie schon gesagt, im Blut lag, fingen sie schließlich an sich gegenseitig die Köpfe einzuschlagen. Sie kämpften so wild, dass die Küsten Midgards von mächtigen Wellen überrollt wurden. Dann versuchten sie einander mit Felsen zu erschlagen, die sie aus dem Meeresboden heraus rissen. Doch keiner von ihnen war stark genug, den anderen zu besiegen. So rissen sie ein so tiefes Loch auf, dass sie schließlich im feurigen Muspelheim herauskamen. Dort herrschte der Feuerriese Surt. Als er sah, was die Trollbrüder getan hatten, wurde er sehr zornig, denn das Wasser, das durch den Riss aus Midgard abfloss, drohte all die Flammen seines Feuerreiches auszulöschen. Also sammelte er all sein Feuer, schmolz damit einen Berg ein und schleuderte ihn den Trollen entgegen. Gegen diese Macht waren sie hilflos. Auf der kochenden Lava schwimmend, wurden sie zurück nach Midgard getrieben. Als die äußere Hülle des geschmolzenen Berges schließlich im frostigen Meer erkaltet war, war eine Insel entstanden, die das Loch nach Muspelheim versiegelte. Und jetzt rate mal, welchen Namen die Menschen dieser Insel gaben, Yngvi?“

„Mallorca, Oma?“

„Nein, du Trottel! Island! Du solltest nicht so viel saufen. Dann könntest du dich vielleicht auch besser daran erinnern, was am Tag vorher so passiert ist!“

Das war jetzt allerdings eine merkwürdige Aussage. Sein „Klein-Ich“ reagierte erstaunlich gelassen.

„Nein, Oma! Jetzt hast du mich wieder mit Papa verwechselt. Ich werde niemals Alkohol trinken. Davon wird man nur doof!“ sagte er. „Natürlich war es Island. Das sollte nur ein Witz sein! Aber was ist aus den Trollen geworden?“

„Surt umschloss sie mit seiner Lava und machte sie so zu einem Teil der Insel. Da sie von all den Kämpfen erschöpft waren, waren sie zu schwach, sich aus ihrem Gefängnis zu befreien. Also legten sie sich schlafen, um ihre Kräfte zu sammeln. Mittlerweile sind sie wieder stark genug.“

„Also wachen sie bald auf!“ fragte Klein-Ich ängstlich.

Oma Jorunn schaute ernst, doch sie sagte: „Trolle schlafen so tief, dass sie nicht von alleine aufwachen können. Nur, wenn man sie in ihrem Schlaf stört, werden sie wieder lebendig. Du weißt ja, dass sie sich in Steine verwandeln, wenn sie einschlafen. So ist es auch mit den Trollbrüdern geschehen. Ihre Körper sind tief eingeschlossen im Inneren der Insel. Nur ein einziger, kleiner Teil von ihnen entging der Umschließung. Das ist der Zehennagel des kleineren Bruders. Immer noch ragt er aus dem Boden heraus. Er ist ganz schwarz, denn Surts Lohe hat ihn verbrannt.“

Sein kleines Ich sprach aus, was er selbst dachte: „Der schwarze Stein!“

Als hätte er sich die Finger verbrannt, hob der erwachsene Yngvi seine Hände von dem Stein. Eine neue Frage begann sich in seinem Geist zu formen, doch Klein-Yngvi kam ihm zuvor. Offensichtlich hatte er sich nicht abgefüllt am Tag zuvor.

„Und was passiert, wenn man den Stein in die Luft jagt?“

Er hätte die Frage anders gestellt, aber als er klein gewesen war, musste in seinen Vorstellungen immer alles mit einem großen Knall „explodieren“. Er hatte wirklich zu viele Videospiele gezockt, damals.

Aus irgendeinem Grund antwortete Oma Jorunn nicht. Nicht einmal mehr ein Bild von ihr sah er. Auch Klein-Yngvi war verschwunden. Zögernd legte Yngvi die Hände zurück auf den Stein. Da war sie wieder.

„Großer Knall!“ sagte sie lächelnd, doch es war auch etwas zutiefst ernsthaftes in ihrem Blick.

Wieder nahm er die Hände vom Stein. Was für verrückte Dinge in einem Gehirn so vorgingen, wenn es in Katerstimmung war? Da dachte sich sein Unterbewußtsein die verrücktesten Geschichten aus, nur, weil er angesichts dem bevorstehenden Abriss der Hütte seiner Oma von Schuldgefühlen geplagt wurde. Er konnte nur hoffen, dass er sich keinen Trollfußpilz eingefangen hatte. Darüber hatte ihm seine Oma mit Sicherheit auch irgendwann mal eine Geschichte erzählt.

Als er an den Baumaschinen, die im Nachbargrundstück standen, vorüber ging, begann er zu lachen. Den ganzen Weg nachhause kam es immer wieder über ihn und es wurde besonders stark, als er an einer Demo zum Schutz des verborgenen Volkes vorbei kam. In was für einer Welt lebten diese Menschen eigentlich? Im Mittelalter oder noch in der Steinzeit? Er war schon fast an ihnen vorbeigezogen, als sich jemand aus ihrer Mitte löste und auf ihn zukam.

„Hæ, Yngvi! Yngvi! Warte doch mal!“ rief die Person. Als er genauer hinschaute, erkannte er, dass es Blendi war. Was zum Teufel hatte der unter diesen Spinnern zu suchen? Der alten Freundschaft zur Liebe blieb er stehen.

„ Hæ Ingvi, wie geht’s dir denn?“

„Och naja, du weißt schon… War ein langer Abend gestern!“ Blendi schaute ihn so an, als erwarte er etwas, also sagte Yngvi schließlich: „Und dir so?“

„Wie soll es mir schon gehen? Scheiße, man! Der Weltuntergang oder sowas ähnliches steht kurz bevor.“

Yngvi musste ihn angeschaut haben, als hätte er sie nicht mehr alle. Was ja offensichtlich auch der Wahrheit entsprach, aber das schien Blendis Eifer eher noch zu befeuern.

„Hast du es etwa noch nicht mitbekommen?“

Jetzt wurde Yngvi doch ein wenig neugierig.

„Was ist denn passiert?“

„Noch nichts! Aber es kündigt sich etwas Großes an!“

Das war genug. Yngvi machte einen Schritt zur Seite und ließ Blendi stehen. Doch der ließ sich nicht so schnell abwimmeln. Er überholte Yngvi und fasste ihn bei den Schultern.

„Du musst lernen die Zeichen zu erkennen, Yngi. Überall geschehen die merkwürdigsten Dinge. Das verborgene Volk – irgendetwas hat sie in Unruhe versetzt. Sie versuchen uns etwas zu erzählen? Bei Logi ist heute Nacht zum Beispiel sein Carport umgefallen. Der gebrochene Pfosten stand ganz nah an einer Feenburg. Fifa Reykssons kleiner Junge war zwei Tage verschwunden. Als er zurück kam, hat er erzählt, er wäre von Zwergen in eine Grotte entführt worden. Sie wollten ihm etwas sagen, aber er hat nichts verstehen können. Und in Keflavík ist ein Lastwagen umgekippt. Der Fahrer hat erzählt, ihn hätte ein Troll gerammt.

„Blendi es wäre besser, du würdest mir jetzt aus dem Weg gehen!“ Auch, wenn der Mann ihn wütend machte, verspürte Yngvi trotzdem so etwas wie Mitleid. Was war nur mit ihm geschehen? Blendi war ihm immer äußerst seriös erschienen. Hatte er nicht sogar Physik studiert? Ein Rest von Verstand schien ihm zum Glück noch geblieben zu sein, denn er ließ seine Schultern los und machte den Weg frei.

„Achte auf die Zeichen, Ingvi. Sie wollen uns etwas mitteilen!“ rief Blendi ihm nach.

Als er zu Hause ankam, hatten sich die Kopfschmerzen schon fast in Luft aufgelöst. Auch die Geschichte mit seiner Traumfrau tat nicht mehr so weh. So traumhaft war sie eigentlich gar nicht gewesen. Wäre er sich nicht so sicher, dass er die gestrige Nacht vollkommen alleine im Proberaum verbracht hatte, hätte er vermutet, dass er irgendwo eine noch traumhaftere Frau kennengelernt hatte. Er duschte, legte sich in sein Bett und schlief augenblicklich ein.

Mitten in der Nacht wachte er wieder auf. Aus unerfindlichen Gründen ging er auf den Flur, öffnete die Lucke zum Dachboden und kletterte hinauf. Es dauerte eine ganze Zeit bis er den richtigen Karton entdeckt hatte. Er schaute hinein, ließ den Karton fallen und stolperte rückwärts. Fassungslos starrte er auf den Karton. Der bekannte Geruch stieg ihm in die Nase, nur war er hier deutlich schwächer. Als er sich schließlich umdrehte und losstürmte, wäre er fast durch die Luke gestürzt.

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